Blagen according to Theo

Einmal habe ich Theo, den alten Schrebergartennachbarn meiner Eltern, gefragt, wieso er denn keine Kinder habe. Gut, die Frage war schon etwas indiskret, aber letztlich hatte Theo sich das selber zuzuschreiben, schließlich hatte er mir drei oder vier großzügig eingeschenkte Pinnchen von einem Aufgesetzten Marke Eigenbrau serviert. Das Zeug hatte eine Farbe gehabt, die jede Frage danach, was da wohl drin sei, unterband. Ablehnen ging aber auch nicht. Das ist wie mit Eingeborenen am Ende der Welt, die einen mit einer süßlichen Paste bestreichen und als Ameisenfutter in die Sonne legen, wenn man ihre Gastfreundschaft ablehnt. In Gelsenkirchen-Bismarck etwa ist es da schon zu ganz hässlichen Szenen gekommen.

Theo jedenfalls hatte sich am Kinn gekratzt und gesagt: »Weisse, datt mit die Blagen, datt hat nich sein sollen bei der Else und mir.«

Man sollte vielleicht noch einwerfen, dass Theos Angetraute mitnichten »Else« hieß, sondern Gertrud. »Else« aber ist bei uns ein gebräuchliches Synonym für »Gefährtin«, jedenfalls bei eher traditionell orientierten Menschen. Moderne Versionen sind »Torte« oder »Ische«. Absolut zeitlos bleibt der Kosename »Olle«.

»Nich datt wir datt nich versucht hätten. Und ich kann dich flüstern, datt wir datt versucht hamm! Kär, watt hamm wir datt versucht! Wenn wir datt versucht hamm, datt war wie Schiachwetter. Aber datt is lange her, und gebracht hatt et nix. Aber wenn ich mir so die Blagen von andere Leute angucke, muss ich sagen, ich bin gar nich so traurich, datt diesen Kelch an uns vorbeigeschlendert is.«

Ich erinnerte mich, dass Theo in der Gartenanlage nie als besonderer Kinderfreund aufgefallen war. Flog ein Fußball in seine Rabatten, drohte er schon mal damit, das Ding aufzuschlitzen und auf den Kompost zu schmeißen. Und als Mücke mich mal in Theos Hecke schubste, kündigte er an, ich könne bald die Wurzeln seiner Tulpen sehr genau untersuchen, und er werde die Tulpen dafür nicht aus dem Boden reißen.

»Mit Blagen is doch so: Ett macht schomma ne Menge Dreck und Arbeit, wennse auffe Welt kommen. Dann machense Krach. Krisse nich abgestellt, glaub mir!«

Da ich das schon zwomal mitgemacht hatte, musste er mir nichts erzählen. Es gab Nächte, da wäre ich nackt und auf Händen am langen Samstag die Haupteinkaufsstraße runtergelaufen, wenn mir einer versichert hätte, die Bengel wären dann still.

»Und dann kannze erssma nix mit ihnen reden. Frauen kriegen datt hin. Bei Frauen und ihre Blagen läuft datt ohne Worte. Für uns Männer is datt nix. Datt heißt, wir können mit so Blagen erss watt anfangen, wenn die quasseln können. Abba wenn man die Zeitungen glauben darf, iss ja dann praktisch schon zu spät. Da hasse als Vatta schon allet versaut.«

Besser kann man das ganze Problem mit der frühkindlichen Prägung wohl kaum auf den Punkt bringen.

»Abba sagenwa mal, du hass Glück und datt Blaach nimmt dich datt nich krumm. Dann kannze aber au widda nich, wie de willz. Darfs datt Kleine ja getz nich mit inne Kneipe nehmen oder so. Und muss au imma bissken aufpassen, watte erzählst, damit datt nicht die ganzen Sauereien mitkricht, die nun mal beim Manne dabeigehörn. Abba ma andersrum is datt natürlich ein schönet Alter, so sechs, sieben, acht Jahre. Da lernen die ständich watt Neuet, können abba auma watt alleine machen. Abba danach geht et doch widda berchab. Da kommt dann die Pubbatät und da willzze se nur noch anne Wand klatschen.«

Nun ja, gab ich zu bedenken, Loslösung von den Eltern, die Herausbildung eines eigenen Standpunktes und all das, das gehöre doch zum Erwachsenwerden dazu.

Theo gönnte sich noch ein Pinnchen, bevor er fortfuhr. »Weisse, da sagen die Leute immer, die Natur is so clever. Die hat allet sauber eingefädelt, die Tiere können immer genau datt, watt se brauchen, um zu überleben. Abba wie clever is datt denn mit die Blagen ihre Pubbatät? Wenn die Natur wirklich schlau war, dann würden die Blagen einen Morgen wach werden und sagen: Vatta, ich weiß getz, datt du immer recht gehabt hass. Mit allet! So! Kein Stress für die Blagen, kein Stress für die Eltern, alle sind zufrieden und leben länger. Nich datt ganze Rumgeheule von wegen, du hass die Mutta nich beim Abwasch geholfen und deshalb muss ich heute Drogen nehmen und datt allet.«

Ich dachte an meine Schwägerin und ihre vier Kinder, von denen drei in der Pubertät waren. Meine Schwägerin hatte in den letzten zwei Jahren schwer abgebaut und wirkte wie eine Frau, die man zwang, einen Achttausender ohne Sauerstoffgerät zu besteigen. Jeden Tag.

»Is au egal, ob du ein Junge oder ein Mädchen geliefert kriss. Die Jungens saufen sich in dem Alter die Hucke voll und wollen dir in die Fresse hauen. Und bei die Mädels hasse die ganzen Freier ummet Haus rumstreichen, die ihr anne Wäsche wollen. So watt kriss du doch ohne Schusswaffengebrauch übbahaupt nich unter Kontrolle!«

Ich dachte an die Jungs, die ich im Wohnzimmer meiner Schwägerin gesehen hatte und die mich schon nach dem Inhalt eines imaginären Schulterhalfters hatten tasten lassen. Und dabei ging es nur um meine Nichte, für die ich eigentlich gar nicht zuständig war. Wenn ich daran dachte, dass ich eine Tochter... Aber mit Jungs ist es doch auch nicht besser. Ich stelle mir jetzt schon manchmal vor, was ich mit diesen arroganten Schlampen mache, die meinen kleinen Jungs das Herz brechen, so wie sie es bei mir auch reihenweise ... Egal, das führt jetzt zu weit.

»Und wennse dann erwachsen sind, dann krisse se nur noch zu Weihnachten zu Gesicht oder wennse dich anpumpen wolln. Und dann meckernse rum, weil et bei dir nicht sauber genuch is. Oder auch datt et zu sauber is, datt is au nich gut. Und dann steckense dich im Heim und verhökern deine Zinnkruchsammlung. So läuft datt. Und deshalb hammwa keine Kinder, die Else und ich.« Noch ein Pinnchen.

»Obwohl...«, meinte Theo und unterzog die Plastiktischdecke einer eingehenden Prüfung. »Manchmal denk ich: War schon nich schlecht gewesen. Ich meine, wenn ich nich mehr bin, watt wird dann aus meine Laube?«

Ich kippte noch einen für den Weg und fühlte mich wieder ein bisschen schlauer.

 

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